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Masterexkursion nach Bergen (22.2-26.2.2016)

Exkursionsbericht

22.02.2016 – 26.02.2016

Eine Exkursion des Masterkurses zur „Vertiefung der norwegischen Sprache und Kultur“ führte im Februar 2016 in die Umgebung Bergens. Ziel der Exkursion war es, verschiedene Institutionen in einer norwegischen Kommune kennen zu lernen. Als Beispielgemeinde diente uns Lindås kommune mit ihrem Hauptort Knarvik, der circa 30 km nördlich von Bergen liegt. Dort nahmen sich verschiedene Ansprechpartner die Zeit, uns ihre Aufgaben vorzustellen und unsere Fragen ausführlich zu beantworten. Wir besuchten die Bibliothek, die Polizeistation, eine Lokalzeitung, ein Einkaufszentrum, das Rathaus, die Kirche und die weiterführende Schule. Dort erfuhren wir von Besonderheiten und Unterschieden in den Aufgabenbereichen dieser Einrichtungen im Vergleich zu Deutschland, der uns natürlich immer vor Augen war.


Bevor es am Montag mit dem Bus auf den Weg nach Knarvik ging, gab es noch die Gelegenheit das Staatsarchiv in Bergen zu besichtigen. Der Staatsarchivar persönlich zeigte in den unterirdischen Archiven die Schätze und Kuriositäten der Sammlung. Darunter befanden sich zum Beispiel ein Pergament mit einem Liedtext aus dem Jahr 1307, einige der ältesten „Geldscheine“ Norwegens, das dickste und schwerste Buch im Archiv und ein paar Brotscheiben aus dem Jahre 1918, die in einem Prozess als Beweismittel für den Verkauf von zu dünn geschnittenen Butterbroten gedient haben. Eher typisch für den Bestand des Archivs sind Kirchenbücher und Aufzeichnungen verschiedener staatlicher Organisationen. Dort werden sie sachgemäß aufbewahrt und der Öffentlichkeit im Lesesaal oder durch Digitalisierung zugänglich gemacht.


Nach der Ankunft in Knarvik lernten wir in der kleinen Bibliothek des Ortes das durchaus vorbildliche norwegische Bibliothekswesen kennen. Bibliotheken sind in Norwegen ein kostenloses Angebot und die Bibliothekskarte gilt in allen Bibliotheken des Landes. Ein Bibliotheksgesetz legt fest, dass sie als ein unabhängiger Treffpunkt und Ort für Debatten und Meinungsaustausch dienen sollen. In der kleinen Bibliothek in Knarvik werden gerade so viele praktische Neuerungen umgesetzt, dass sich auch größere Bibliotheken in Deutschland ein Beispiel daran nehmenDSC04215 können. Um den Zugang zur Bibliothek zu erleichtern, bleibt ein Teil der Bibliothek auch außerhalb der Öffnungszeiten für die Benutzer zugänglich. Dafür muss ein Vertrag mit der Bibliothek unterschrieben werden und die Bibliothekskarte des Benutzers wird für den Zugang freigeschalten. Norwegische Bibliotheken sehen heute auch praktische Wissensvermittlung als ihre Aufgabe an und deshalb wird die Bibliothek in Knarvik bald eine eigene kleine Werkstatt bekommen, in der Werkzeuge und Materialien allen Bürgern zum Ausprobieren ihres handwerklichen Geschickes zur Verfügung stehen. Ein besonderes Angebot in Kooperation mit anderen Bibliotheken der Umgebung sind der Bücherbus und das Bücherboot, die entlegene Gegenden und weniger gut ausgestattete Schulbibliotheken mit einem Nachschub an Büchern versorgen. Für Einwanderer und Asylanten wird einmal pro Woche mit freiwilligen Helfern aus der Gemeinde ein „Sprachcafé“ angeboten, an dem wir teilnahmen.


Am nächsten Morgen besuchten wir den Lensmannskontor in Knarvik. Ein Lensmannskontor ist eine Art Polizeistation, die auch zivile Aufgaben erfüllt, so zum Beispiel das Ausstellen von Pässen oder das Eintreiben von zivilen Forderungen über den Namsmann. Auch hier wurden wir freundlich empfangen und die verschiedenen Aufgabenbereiche des Lensmannskontor wurden vorgestellt. Aktuelle Schwerpunkte der Polizeiabteilung sind eine geplante Asylantenunterkunft und die vorbeugende Arbeit mit Jugendlichen gegen Abhängigkeiten und Kriminalität. Wegen einer Polizeireform muss jetzt ein größeres Gebiet abgedeckt werden, zu dem sowohl Inseln als auch Berggebiete mit Lawinengefahr gehören. Norwegische Polizisten tragen in der Regel keine Schusswaffen, eine Ausnahme davon gab es in letzter Zeit wegen der bestehenden Terrorgefahr in Europa. Nun wurden Schusswaffen durch einen Gerichtsbeschluss wieder aus der gewöhnlichen Ausrüstung der Polizisten entfernt.


Wenn man erfahren möchte,DSC04195 was die Menschen einer Gegend bewegt, ist es immer eine gute Möglichkeit die Lokalzeitung zu lesen, oder – wie in unserem Fall – sie gleich selbst zu besuchen. Hier unterhielten wir uns über den fallenden Ölpreis und die damit verbundenen wirtschaftlichen Herausforderungen, die geplante Gemeindereform und verschiedene Bauprojekte. Die Lokalzeitung „Strilen“ erscheint dreimal wöchentlich und teilt sich das Gebiet mit einer anderen Lokalzeitung, die an anderen Wochentagen erscheint. „Strilen“ ist eine der wenigen Zeitungen auf Nynorsk und verwendet sprachliche Varianten, die dem örtlichen Dialekt naheliegen, also „me“ statt „vi“ für „wir“ und a-Endungen bei Verben. Am Nachmittag gab es darüber hinaus noch die Gelegenheit zu einem Gespräch mit dem Leiter des Einkaufszentrums in Knarvik, das mehr als 60 Läden und insgesamt 100 verschiedene Unternehmen beherbergt. „Knarvik Senter“ versteht sich – ganz gemäß des Mottos „Møteplassen for handel og kultur“ – neben seiner Funktion als Anbieter von Waren und Dienstleistungen auch als Treffpunkt und kulturelle Arena. Ein Jugendzentrum mit fest angestellten Sozialarbeitern soll die Jugendarbeit dort ermöglichen, wo sich Jugendliche in den Pausen und nach der Schulzeit gerne aufhalten. Abends besuchten wir in Bergen das Theaterstück Vår ære/Vår makt, das auf dem Drama von Nordahl Grieg basiert. Die Inszenierung zeigte auf beeindruckende Weise, wie Videoinstallationen und Lautsprecherarrangements im Theater effektvoll eingesetzt werden können. Es setzte dabei Griegs Theaterstück mit seiner Kritik an den Handlungen norwegischer Reeder im Ersten Weltkrieg in einen Zusammenhang mit seinem Tod als Bomberpilot im Zweiten Weltkrieg.


Höhepunkt der Exkursion war der Besuch im Rathaus am Mittwoch. Hier nahmen sich sowohl Bürgermeister als auch „Rådmann“ für uns Zeit. Wir erfuhren, dass die meisten norwegischen Kommunen nach dem „Formannskapsmodell“ organisiert sind, also sowohl einen Bürgermeister als politischen Leiter haben, als auch einen „Rådmann“ als administrativen Leiter, der sich um alltägliche Aufgaben kümmert und die politischen Beschlüsse umsetzt. In Norwegen ist gerade die geplante Gemeindereform ein großes Thema, bei der die Anzahl der Kommunen stark reduziert werden soll. Schon jetzt haben die Kommunen in Norwegen ein größeres Aufgabengebiet und eine größere Fläche als Gemeinden in Deutschland. Wenn man „kommune“ also mit „Gemeinde“ gleichstellt, entstehen falsche Erwartungen, von denen auch wir uns erst einmal befreien mussten. Knarvik hat sich erst in den letzten 40 Jahren zu einem dichtbevölkerten Gemeindezentrum entwickelt und dabei wurde keinem städtebaulichem Gesamtkonzept gefolgt. Das soll künftig durch mehr Fokus auf ästhetisch schönes Bauen wieder gut gemacht werden. Lindås ist stolz auf seine Blaskapellen, das Sportereignis „Knarvikmila“, und darauf, Modellkommune in einem Projekt zu sein, das es pflegebedürftigen Menschen erlauben soll, länger selbstständig zuhause zu leben.


Schließlich statteten wir auch noch der neuen Kirche in Knarvik einen Besuch ab, wo wir zuerst vom Pfarrer eine Führung durch das minimalistische, preisgekrönte Holzgebäude bekamen – inklusive des Glockenturmes, der mit einer Leiter erklettert werden musste. Im Aufenthaltsraum unterhielten wir uns schließlich über die Organisationsstruktur der Kirche, die norwegische Kirchengeschichte und momentane Herausforderungen. Seit 2012 ist „Den norske kirke“ nicht mehr die Staatskirche Norwegens und mit der Ablösung vom Staat muss auch die Finanzierung DSC04211der Kirche neu geregelt werden. Eine Kirchensteuer wäre aber in der säkularisierten norwegischen Gesellschaft abschreckend für viele Mitglieder. „Den norske kirke“ sieht sich als eine Volkskirche, die für alle ihre Mitglieder da sein möchte, auch wenn selbst wenn 80% der norwegischen Bevölkerung, die Mitglied sind, nur etwa 5% der Norweger regelmäßig einen Gottesdienst besuchen. Bei der letzten Kirchenwahl haben die meisten Kirchenmitglieder Vertreter gewählt, die eine gleichgeschlechtliche kirchliche Ehe befürworten. Dieses Resultat spiegelt aber nicht unbedingt die Meinung der konservativen Mitglieder wieder, die eher in der Kirchengemeinde aktiv und sichtbar sind.


Am letzten Tag der Exkursion konnte man in der „Knarvik videregåande skule“ am Norwegischunterricht der Abschlussklasse teilnehmen. Die Klasse behandelte gerade Modernismus und Traditionalismus in der norwegischen Literatur zwischen 1940 und 1980. Jeder der Schüler hatte einen eigenen Laptop, der im Unterricht für Mitschriften und zur Teilnahme an einem Quiz zum Thema verwendet wurde.
Einige Themen und Konzepte begegneten mir im Laufe der Woche immer wieder, was es mir ermöglichte, übergreifende, eventuell „typisch norwegische“ Zielsetzungen der Einrichtungen wie Gleichstellung, Offenheit und Integration zu erkennen. Herausforderungen, die sich mehreren Institutionen gleichermaßen stellen, ließen auf die Gesamtsituation der Kommune schließen. In dieser Woche hat sich gezeigt, welche interessanten Facetten selbst eine für Norwegen mittelgroße Ortschaft wie Knarvik (ca. 5500 Einwohner) bieten kann – soviele, dass es mir schwer fällt, mich in meinem Bericht kurz zu fassen.


Ich bedanke mich bei unserer Norwegischlektorin Irene Karrer für die Organisation eines interessanten und lehrreichen Exkursionsprogrammes, das mir die Möglichkeit gegeben hat, Norwegen von einer anderen Seite kennen zu lernen!
Anne Gröger