Nordistik
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Prof. emer. Dr. Kurt Schier

Emeritus

Am 19. August verstarb der langjährige Leiter des Instituts für Nordische Philologie und Germanische Altertumskunde der Ludwig-Maximilians-Universität München (heute: Institut für Nordische Philologie), Professor emeritus Dr. Kurt Schier, im Alter von 94 Jahren im Kreis seiner Familie in Deisenhofen bei München. Wir betrauern seinen Tod.

Schiers Heimat lag im Sudetenland. Dort wurde er am 27. Februar 1929 in Ober-Maxdorf bei Gablonz im Isergebirge geboren. Vertreibung und Flucht führten ihn nach Bayern, wo er an der Ludwig-Maximilians-Universität von 1949 bis 1955 Skandinavistik, Volkskunde, Germanistik, Anglistik und Geschichte studierte. Ein Studienaufenthalt auf Island in den Jahren 1951 bis 1952 führte zu einer engen persönlichen Bindung an Land und Leute, die mit der Verleihung des Großkreuzes des Falkenordens im Jahr 1991 eine glänzende offizielle Anerkennung fand. 1955 wurde er von Friedrich von der Leyen mit der Dissertation ‚Praktische Untersuchungen zur mündlichen Wiedergabe von Volkserzählungen‘ promoviert. 1971 erfolgte wiederum in München die Habilitation mit der Abhandlung ‚Balder, Loki, Heimdall. Untersuchungen zur germanischen Religion‘. Bis zu seiner Berufung im Jahr 1976 war Kurt Schier als Assistent, Lehrbeauftragter und Lehrstuhlvertreter am Münchner Institut tätig. Neben seinem Doktorvater war es vor allem die Begegnung mit Otto Höfler, die seine wissenschaftliche Sozialisation prägte.

Mit Schiers Amtsantritt wurde eine längere Phase der Stagnation in der Geschichte des Münchner Instituts überwunden. Die äußeren Voraussetzungen dafür schuf zunächst der Umzug in die Amalienstraße, wo nach Jahren der räumlichen Aufsplitterung alle Ressourcen an einem Ort gebündelt werden konnten: Leitung, Verwaltung, Lehre und Bibliothek. Weitere wichtige Schritte des institutionellen Ausbaus waren die Einrichtung einer Professur für Neuskandinavistik und die Etatisierung des Dänischlektorats. Als Ausdruck der wachsenden internationalen Anerkennung darf gewertet werden, dass es gelang, 1979 und 1980 mit der Sagakonferenz und dem Ibsen-Seminar zwei große Internationale Tagungen nach München zu holen. Mit der ‚Münchner Arbeitstagung‘ schuf Kurt Schier zudem ein eigenes Format, bei dem sich in unregelmäßigen Abständen befreundete Fachkollegen in München trafen, um sich in ungezwungener Atmosphäre über aktuelle Themen des Fachs auszutauschen. Zahlreiche Gastforscher kamen unter Schiers Ägide gerne nach München, nicht zuletzt angelockt durch die außerordentlichen Ressourcen der damaligen Institutsbibliothek.

Kurt Schier forschte und lehrte über ein breitgefächertes Repertoire von Themen. Sein Interesse an der Erzählforschung, das nicht zuletzt während seines Islandaufenthalts geweckt worden war, wo er u. a. auf einem nordisländischen Bauernhof arbeitete, führte ihn zu den skandinavischen Volksmärchen und den färöischen Tanzballaden. Dabei konnte er zeigen, dass die mündliche Überlieferung der schriftlichen Literatur nicht notwendigerweise vorausgeht, sondern dass zwischen Volkserzählung bzw. -dichtung und literarischem Werk oftmals komplexe Wechselwirkungen bestehen. Zusammen mit Felix Karlinger hatte er 1967 die legendäre Reihe ‚Märchen der Weltliteratur‘ von seinem Lehrer Friedrich von der Leyen übernommen und bis 1982 seinen Stempel aufgedrückt. Für die ‚Enzyklopädie des Märchens‘, dem renommierten Handbuch zur internationalen und vergleichenden Erzählforschung, verfasste er zudem wichtige Beiträge, in denen er die Relevanz folkloristischer Ansätze für germanische und altnordische Überlieferungen nachwies. Über einen Forschungsaufenthalt auf den Färöer im Sommer 1954 fand Schier Zugang zur Tradition der färöischen Tanzballaden, von denen er als einer der ersten Tonbandaufnahmen anfertigte. In der Folge standen dann im Münchner Institut immer wieder Lehrveranstaltungen zur färöischen Sprache und zu den Tanzballaden auf dem Lehrplan. Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Sagaforschung, in der Schier eine vermittelnde Position zwischen der Freiprosa- und der Buchprosatheorie suchte. Indem er literaturwissenschaftliche Perspektiven mit volkskundlichen verband, konnte er die Sagas als literarische Werke interpretieren, deren Eigenart gerade darin liegt, dass sie als Produkt einer literarischen Hochkultur gleichzeitig in hohem Maß den Gesetzmäßigkeiten der Volkserzählung unterliegen. Sein in der ‚Sammlung Metzler‘ erschienenes Bändchen ‚Sagaliteratur‘ wird bis heute wegen seiner komprimierten und kompetenten Darstellungsweise gerne zur raschen Information herangezogen. Als eindrucksvolles Zeugnis seines ausgewogenen Urteils darf schließlich die reich kommentierte Übersetzung der Egils saga gelten, die 1976 den Auftakt einer geplanten SAGA-Reihe bildete. Leider war diesem Projekt ebenso wenig Erfolg und Dauer beschieden wie dem Versuch, 1996 eine breiter angelegte Reihe mit dem Titel ‚Saga. Bibliothek der altnordischen Literatur‘ aufzulegen. Sie sollte der in Deutschland vor allem durch die Sammlung Thule etablierten Gleichsetzung von Sagaliteratur und Isländersaga ein erweitertes Bild von dem Reichtum und der Vielfalt der altnordischen Literatur entgegensetzen. Neben der Sagaliteratur standen in München mit der skaldischen und der eddischen Dichtung die beiden anderen Hauptgattungen der altnordischen Literatur auf dem Lehrplan. Zu beiden Genres hat Schier wichtige Aufsätze mit Fokus auf religionsgeschichtlichen Fragestellungen verfasst. Hinzuweisen wäre in diesem Zusammenhang etwa auf den umfangreichen Artikel zur Lieder-Edda im ‚Reallexikon der Germanischen Altertumskunde‘ (RGA), der nach wie vor als die beste deutschsprachige Einführung zu diesem Thema gelten kann. Dem RGA war Schier darüber hinaus insbesondere als Fachberater für den Bereich ‚Tägliches Leben, Brauch und Sitte‘ verbunden. Sein besonderes Interesse galt hier dem Thema Heilkunde. Neben der mündlichen und schriftlichen Überlieferung haben auch Bilddenkmäler als Traditionsträger immer wieder eine wichtige Rolle in Kurt Schiers Forschungen gespielt. Dabei griff er weit aus, von den bronzezeitlichen Felsbildern Skandinaviens, über die bildbeschreibenden Dichtungen der Wikingerzeit bis hin zu den hochmittelalterlichen Visualisierungen der Staffanslegende. Damit wurde am Münchner Institut eine Tradition begründet, die bis heute nachwirkt. Schiers vielfältige Interessen verbanden sich schließlich in der intensiven Beschäftigung mit Konrad Maurer, dem Ahnherrn der Münchner Nordistik. Von Haus aus Rechtshistoriker, verdankt das Fach diesem großen Freund Islands grundlegende Werke zur Sagaliteratur und zur isländischen Volksüberlieferung. Es gelang Schier, das verschollene Manuskript von Maurers unveröffentlichter Beschreibung seiner im Jahr 1858 unternommenen Islandreise aufzuspüren und in einer kommentierten Ausgabe im Druck zugänglich zu machen.

Als akademischer Lehrer verfügte Kurt Schier über die Fähigkeit, selbst komplexe Themen anschaulich zu vermitteln. Das ungewöhnlich breite Themenspektrum seiner Lehrveranstaltungen reichte dabei von der Vorgeschichte bis in die Gegenwart. Er zeigte sich den Studierenden gegenüber zugewandt und fürsorglich. Er scheute sich nicht, bei Problemen mit der Verwaltung zu ihren Gunsten zu intervenieren. Ein scharfes oder verletzendes Wort kam nie über seine Lippen. Selbst über eine ihn sehr belastende Phase seiner akademischen Karriere berichtete er zurückhaltend und um Ausgewogenheit bemüht. Ausdruck der großen Wertschätzung, die Kurt Schier als Wissenschaftler und Mensch erfuhr, ist nicht zuletzt die umfangreiche Festschrift, die ihm zu seinem 80. Geburtstag überreicht wurde.

Nach seiner Emeritierung im Jahr 1994 blieb Kurt Schier dem Institut als gern gesehener Gast verbunden. Er besuchte lange die Tagungen der Münchner Altnordistik und feierte mit dem Institut seine großen Geburtstage, zuletzt seinen 90. Noch im hohen Alter nahm er Einladungen zu Vorlesungen an und konnte etwa problemlos eine ganze Doppelstunde zur Egils saga in freier Rede mit der ihm eigenen Anschaulichkeit gestalten.

Kurt Schier hat die Geschichte des Münchner Instituts entscheidend geprägt. Dem Wissenschaftler und Lehrer gilt unsere Verehrung, dem Menschen unsere bleibende Zuneigung.

Wilhelm Heizmann für das Institut für Nordische Philologie