Nordistik
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Ambiguität als Erzählstrategie in den Isländersagas

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer: 522486190
Projektbeginn: 1.10.2023
Projektleitung: Dr. Andreas Schmidt

Þeim var ek verst, er ek unna mest‹ – ›Ich habe gegen den (oder die) am schlimmsten gehandelt, den (oder die) ich am meisten geliebt habe‹.

Mit diesem Rätsel beendet die Protagonistin Guðrún Ósvífrsdóttir die Laxdœla saga. Damit beantwortet sie weniger unumwunden die Frage ihres Sohnes danach, welchen ihrer vier Ehemänner sie am meisten geliebt habe, als direkt die Rezipientenschaft der Erzählung vor eine offene Frage zu stellen, die zugleich eine Zusammenfassung der Gesamthandlung aus ihrer Perspektive beinhaltet: Wann hat Guðrún am schlimmsten gehandelt, und wen hat sie entsprechend am meisten geliebt? Bezieht sie sich überdies nur auf einen oder gar zwei Männer, Kjartan und Bolli, die ehemals besten Freunde, die im Streit um ihretwillen einander getötet haben?

Diese und ähnliche Textstellen stehen paradigmatisch für die Gattung der Isländersagas und werden seit langem als Gründe für ihren ›entertainment value‹, das langlebige Interesse, das sie auf sich ziehen, angesprochen. Ihre moraldidaktische Offenheit und Vorliebe für Komplexität von Figuren und Handlungssträngen gilt als Wesensmerkmal dieser Texte und lässt sich als literarisch-narrativ induzierte Mehrdeutigkeit der Interpretationsoptionen, als Ambiguität, fassen.

Das Projekt verfolgt deshalb das Ziel, das Konzept der Ambiguität als narratologische Kategorie systematisch für Analysen und Kontextuntersuchung des Corpus’ der Isländersagas zu erschließen. Seine leitende These lautet, dass in diesen Erzählungen strategisch, corpusweit und intentional Ambiguität im Sinne von wechselseitig ausschließlichen Deutungsoptionen erzeugt wird, die in einem interpretativen Akt bezüglich eines Gesamttextes zwangsweise rezipientenseits entschieden werden müssen.

Während man solche absichtliche Umgehung von Eindeutigkeit der Interpretation lange nur moderner Literatur zugestanden hat, zeigen jüngere Beiträge disziplinumfassend auf, dass erstens mittelalterliche Literatur keineswegs kategorisch anders funktioniert als neuzeitliche, und dass zweitens auch dem Mittelalter das Phänomen mehrfacher Verstehbarkeit von Texten bewusst war und gewinnbringend eingesetzt werden konnte. An diesen aktuellen literaturtheoretischen und mediävistischen Diskussionen hat die Altnordistik bisher allerdings kaum Anteil, obwohl die Isländersagas und ihre Erforschung hier reiche, bereits punktuell benannte Perspektiven bieten.

Ambiguisierung betrifft in den Isländersagas insbesondere sozial konstruierte Normen und deren individuelle Umsetzung sowie die übermenschlich-transzendente Bedingung der dargestellten, fiktiven Welt. Begründet ist sie darin, dass die Texte nach dialogischen Verfahren im Sinne Michail Bachtins erzählt und inszeniert und aufgrund der gattungscharakteristischen handschriftlichen Varianz und Intertextualität auch überliefert werden. Den sozialen Fokus der diegetischen Ebene spiegeln so ›soziale‹ Erzählprinzipien, die sich insbesondere in textlicher Vielstimmigkeit niederschlagen. Dies überträgt ein dialogisches Verhältnis auch auf den Rezeptionsvorgang, d.h. den Akt der Textdeutung durch sein Publikum. Die Sinnhaftigkeit solcher Ambiguitätserzeugung kann anthropologisch durch die soziale Relevanz und Funktionalität uneindeutiger Narrative begründet werden, wie sie Albrecht Koschorke theoretisch entwickelt hat.

Das Projekt wird theoretische und historische Grundlagen von narrativer Ambiguität und ihren Erzeugungs- und Verständnisbedingungen aufarbeiten, indem ein theoretischer und mentalitätsgeschichtlicher Unterbau der Analyse erarbeitet wird. Anschließend wird das Projekt die aus dem Gesamtcorpus abgeleiteten narrativen Mechanismen der Ambiguitätserzeugung in den Isländersagas anhand von ausgewählten Fallbeispielen näher analysieren. Leitfrage ist, durch welche Erzähl- und Überlieferungsmechanismen Ambiguität erzeugt wird, und bei welchen Themen sie sich in welcher Hinsicht bei der Textdeutung niederschlägt. Somit wird ein grundlegendes Klassifikationsraster und Analyseinstrumentarium der entsprechenden narrativen Verfahren vorgelegt, das sich in eine Taxonomie von vier hauptsächlichen Aspekten von Ambiguitätserzeugung aufgliedern lässt:

  • Ambiguität als Resultat intradiegetischer Polyphonie
  • Ambiguität als Resultat von textstruktureller Mehrfachcodierung durch die Erzeugung widerstreitender Motivationsmodelle für Plothandlungen
  • Ambiguität als Resultat des gattungsinhärenten Intertexts als gemeinsamer Erzählkosmos
  • Ambiguität als Resultat der Varianz und des daraus folgenden Dialogs einzelner Handschriftenzeugnisse einer Erzählung

Abschließend werden die gewonnen Perspektiven in den kultur- und soziohistorischen Hintergrund der Entstehungs- und Überlieferungszeit der Texte zwischen 13. und 17. Jahrhundert rückgebunden, die Zeit zwischen ersten schriftlichen Fragmenten und erster systematischer Sammlung, und nach ihren Konstanten und Bedingungen für ambige Textproduktion, den Nutzen der Texte und ihren ›Sitz im Leben‹, befragt.

Somit werden bisherige Forschungsperspektiven gebündelt und vertieft und ein erneuerter Analyse-Ansatz für diese Erzählungen bereitgestellt, um damit zum interdisziplinären Theoriediskurs beitragen zu können.