Nordistik
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Habilitation Jan Alexander van Nahl

Die Domestizierung der Unbestimmtheit – Kontingenz und Zufall in den altisländischen Königssagas

Das späte 12. und frühe 13. Jahrhundert auf Island, die so genannte Sturlungaöld, werden in der Forschung als Zeit gesellschaftspolitischer Krisen gedeutet, eine These, die wesentlich auf Interpretationen der altnordischen Saga-Literatur fußt. Diese Krise erscheint damit als etwas Imaginäres, das aus Wünschen und Ängsten gespeist wurde, als Erfahrung eines Kontinuitätsbruchs in Lebensordnungen, der zu narrativen Sinnbildungsleistungen herausforderte, die dann ihrerseits auf die Gesellschaft zurückwirken konnten. Widersprüche und Mehrdeutigkeiten in der Saga-Literatur können insofern als Ausdruck einer historischen Widersprüchlichkeit gelesen werden: Narrative Ambiguität, also die in komplexen Erzählungen sich ergebende oder intendierte Mehrdeutigkeit von Erzählelementen, ist Ausdruck zeitbedingter Instabilität. Die Ereignisverknüpfung in solchen Erzählungen folgt dann keiner linearen Notwendigkeit, sondern erscheint in synchroner Perspektive als kontingenter Raum möglicher Fortsetzungen, deren jeweilige Geltung erst im Resultat deutlich wird. Aus dieser Sicht liegt der Maßstab literarischer Produktivität und Innovation im Ausspekulieren von Möglichkeiten, die dem Realen vorausliegen.

Vor dieser literaturanthropologischen Grundannahme richtet meine Studie den Blick auf die drei großen Sammlungen altnordischer Königssagas aus dem frühen 13. Jahrhundert: Fagrskinna, Heimskringla und Morkinskinna. Die in bisheriger Forschung dominante Ansprache dieser Sagas als Historiographie hat Augenmerk auf rationale Aspekte gelenkt, ohne diese Eigenart systematisch auf ihre Grundlage, Bedeutung und Konsequenz hin zu befragen. Die wichtigste Neuerung der vorliegenden Studie ist demgegenüber das radikal geänderte theoretische Fundament: Wo traditionelle Interpretationen der Königssagas mit der Prämisse einer herausragenden Handlungskompetenz der Figuren (auch als Resultat eines diffusen Glücks) operieren, da gilt mein Interesse den Rahmenbedingungen und damit Grenzen menschlichen Handelns. Der Schwerpunkt meiner Studie liegt damit, erstmals in der skandinavistischen Mediävistik, auf Konzepten von Kontingenz, im Sinne des Möglichen, aber nicht Notwendigen, sowie Zufall, verstanden als aktualisierte Möglichkeit im kontingenten Raum; Relevanz und Anschlussfähigkeit von Koinzidenz, Ambiguität und Ambivalenz sind Teil der Diskussion.

Im Blick auf wirksame Mentalitätsgeschichten kommen einerseits gelehrte, andererseits lebenspraktische Positionen des 12. und 13. Jahrhunderts als Beurteilungshintergrund zur Sprache: umwälzende Ereignisse und Entwicklungen wie die Kreuzzüge, die Wiederentdeckung der aristotelischen Schriften, die Trennung von Philosophie und Theologie sowie die Etablierung einer neuen Form der fiktionalen Literatur. Die Einflüsse dieser kontinentalen Bewegungen auf die altnordische Saga-Literatur wurden in bisheriger Forschung selten eingehender bedacht, erfahren nun aber die nötige literaturwissenschaftliche und auch forschungsgeschichtliche Aufmerksamkeit.

Die Neulesung der großen Königssaga-Kompilationen zeigt: Sozialer und natürlicher Kontingenz werden erhebliche Bedeutung zugestanden, sie sind Ausdruck eines Erzählpotenzials, das darauf gerichtet scheint, einen durchaus nicht immer wahrscheinlichen Verlauf der nordischen Geschichte soweit möglich sinnvoll zu machen. Umschlossen aber ist dieses Sinngebäude von der akzentuierten Einsicht in die Grenzen menschlicher Sinngebung. Doch nicht allein auf thematischer Ebene wird ein Deutungsspektrum eröffnet, das durch Mehrdeutigkeit und Unvereinbarkeit geprägt ist, sondern Thema, Struktur und Quellen fallen in den Königssagas wiederholt nicht zu einer sinnstiftenden narrativen Einheit zusammen, sondern präsentieren Ordnung generell als kontingent.

Und dennoch bleiben die Königssagas als intendierter Erzählakt bestehen, als große Erzählprojekte, die man schwerlich als Abgesang auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fassen möchte. Unbestimmtheit ist ja auch Potenzialität, die Hoffnung macht auf das Verwirklichen menschlicher Wünsche. Der Rezipient ist angesichts der ihm vorgehaltenen De-Konstruktion von Geschichte also angehalten, in einer Welt des Als-Ob neue Koordinaten zu setzen, die konstruktiv zur Entlastung vom Gefühl der Unbestimmtheit beitragen können. Die dann auch politische Botschaft der Königssagas würde lauten: Wer den Willen und die Kompetenz zum Erzählen bewies, der war angesichts der narrativen Dimension von Gesellschaft zur Sturlungaöld auch im wirklichen Leben in gesteigertem Maße zu einer ordnenden Leistung befähigt. Eine Botschaft würde aber auch lauten: Solche Domestizierung der Unbestimmtheit ist als Prozess nicht abschließbar, der Weg ist nicht final determiniert, außer dystopisch durch den Untergang. Diese das menschliche Leben bis zum Tod bestimmende Ambivalenz von Macht und Ohnmacht wird in der vorliegenden Studie als bedeutungstragender Kern der Königssagas herausgearbeitet. Aus kulturhistorischer, erzähltheoretischer und literaturanthropologischer Sicht wird damit ein neuer Zugang zu Mentalitäten des mittelalterlichen Islands aufgezeigt.

 

The Domestication of Uncertainty – Contingency and Chance in the Old Norse Kings’ Sagas

The late 12th and early 13th centuries in Iceland, the so-called Sturlungaöld, are construed by scholars as a time of sociopolitical crisis, an assumption essentially built on the interpretation of Old Norse saga literature. This crisis appears as something imaginary, fed by desires and fears – the experience of a break in continuity in ways of life, stimulating the narrative construction of meaning, which reacted upon society. From this point of view, contradictions and ambiguities in Old Norse sagas can be understood as manifestations of historical contradictions: narrative ambiguity, in the sense both of unconscious and intended ambiguousness of narrative components, is a token of time-conditioned instability. The concatenation of narrative events does not comply with linear necessity but, viewed from a synchronic perspective, creates a contingent realm of alternatives, the validity of which only becomes visible in retrospect. The narrative exploration of such possibilities is a main criterion for literary productivity and innovation.

It is against this assumption from the field of literary anthropology that my study focuses on the three grand compilations of Old Norse kings’ sagas from the early 13th century: Fagrskinna, Heimskringla, and Morkinskinna. Previous scholarship tended to interpret these sagas primarily as historiography, thus highlighting rational aspects, yet without scrutinizing systematically the basis, significance, and consequences of this specific trait. In contrast to this traditional position the most important novelty of my study is the radical shift of the theoretical foundation: whereas earlier interpretations of the kings’ sagas have argued against the premise of an outstanding competence of the saga characters (even linked to a vague concept of luck), my interest lies in the framework conditions and thus the bounds of human action. For the first time in medieval Scandinavian studies, the focus of my research is on concepts of contingency (in the sense of a realm of non-necessitated possibilities), and chance (in the sense of actual occurrences within this contingent realm); the significance and compatibility of coincidence, ambiguity and ambivalence are part of this discussion.

Focusing on relevant histories of mentality, both scholarly and everyday attitudes of the 12th and 13th centuries are taken into account: sweeping events and developments such as the crusades, the rediscovery of Aristotelian writings, the division of philosophy and theology, as well as the establishment of a new type of fictional literature. The impact of these continental movements on Old Norse saga literature has rarely featured prominently in previous scholarship, but is now given attention from the point of view both of literary studies and the history of research.

The close reading of the grand compilations of kings’ sagas illustrates how both social and natural contingency play an important role: contingency demonstrates a narrative potential which seems to strive for making sense of the often improbable course of Nordic history. This meaningful construct, however, is embraced by the obvious insight into the limitations of human interpretation. Moreover, the indicated spectrum of ambiguous and contradictory explanations is visible not only on the thematic level: theme, structure and sources of the kings’ sagas are often not merged into a meaningful narrative unity but display order as being contingent in general.

Still, the kings’ sagas are intended as narrative ventures, which are hard to dismiss as nothing but a farewell to the past, present and future. After all, uncertainty is potentiality that raises hope regarding the realization of human dreams. In the face of the narrative de-construction of history, the recipient is urged to find new coordinates in a world of ‘as if’, coordinates that contribute constructively to the relief from the burden of uncertainty. The (political) message of the kings’ sagas could then be: whoever was willing and competent to be a narrator was particularly qualified to establish order even in real life, the more so given the narrative dimension of society in the Sturlungaöld. However, another message would be: this domestication of uncertainty is a process that cannot be brought to a conclusion, the path is not finally determined except by dystopic doom. This ambivalence of power and powerlessness that defines human life until death is argued to be the significant core of the kings’ sagas. My study thus introduces a new approach to medieval Icelandic mentalities from the point of view of cultural history, narratology, and literary anthropology.