Nordistik
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Habilitationsprojekt Anita Sauckel

Abstract: Die Brennu-Njáls saga: Ein altisländischer Tricksterdiskurs

Das Interesse der Isländer an ihrer mittelalterlichen Literatur, insbesondere an der als künstlerisch herausragend geltenden Brennu-Njáls saga ist nach wie vor ungebrochen: Dies belegen u.a. aktuelle Forschungsvorhaben, wie etwa das Projekt zur Varianz in den bisher bekannten über 60 Handschriften der Saga, dem sich das Arnamagnäanische Institut in Reykjavík von 2012 bis 2019 gewidmet hat. Darüber hinaus hat die Erzählung seit längerem Eingang in die isländische Alltagskultur gefunden, wie eine beliebte Comicbuchreihe, Museumsprojekte und moderne Theaterstücke belegen.
In der deutschsprachigen Skandinavistik ist die Njáls saga in den letzten vier Jahrzehnten dagegen selten Gegenstand umfangreicher Einzelstudien gewesen. Mein Habilitationsprojekt leistet einen neuen Beitrag zur Njáls saga-Forschung im Speziellen und zur Isländersagaforschung im Allgemeinen, indem es die Saga unter Zuhilfenahme des kulturtheoretischen Phänomens der „Figur des Dritten“ analysiert. Ein Vertreter dieses Figurenkabinettes im personalen Sinne ist die v.a. aus der Mythologie polytheistischer Religionen bekannte Gestalt des Tricksters – eine Figur, die Andere betrügt oder täuscht, Untergänge provoziert und (dadurch) Neuanfänge herbeiführt. Seit der Jahrtausendwende interessieren sich die modernen Kultur- und Literaturwissenschaften verstärkt für diese Figur und interpretieren sie nicht nur auf der Figurenebene einzelner Mythen, sondern weiten die Interpretation auf die Zeit der Niederschrift solcher Erzählungen aus und beziehen, wo möglich, „Verfasser“ und Rezipienten samt ihren Schicksalen mit ein. Auf Grundlage dieser modernen Ansätze habe ich ein Konzept zur Anwendung auf die altisländische Sagaliteratur erstellt, das sich zum Einen mit der Erfassung und Untersuchung tricksterhafter (Figuren-)Charakteristika, zum Anderen mit der Auswertung von invertierten Erzählelementen auseinandersetzt.
Meine Untersuchung ist schwerpunktmäßig in zwei Abschnitte gegliedert: Die erste Teilanalyse widmet sich der Figurendarstellung und -konstellation, wobei der Schwerpunkt auf der Lesung des Protagonisten als Trickster liegt. Durch eine systematische Analyse der Figurenkonstellationen werden die tricksterhaften Merkmale Njálls herausgearbeitet und sein Handeln als Trickster sowie die Auswirkung seines Verhaltens auf den Handlungsverlauf veranschaulicht. Entgegen bisheriger Interpretationen des Protagonisten als „guten Christen“ und Märtyrer, der schließlich dem hinterhältigen Anschlag seiner Feinde zum Opfer fällt, lässt die Lesung Njálls als Tricksterfigur u.a. Eigenschaften wie Machtgier und Pedanterie in den Vordergrund treten, die ihn und seiner Familie am Ende das Leben kosten.
Der zweite Teil meiner Arbeit legt den Fokus auf die Erzählweise: So handelt es sich bei der gesamten Saga um eine Trickstererzählung, die in mehreren ineinandergreifenden Zyklen auserzählt wird. Diese sind, wie in den meisten Trickstermythen, geprägt von der Diskussion geltender Normen, von Untergang und Neubeginn. Innerhalb der Zyklen herrschen invertierte Erzählmuster vor, wie z.B. die Verhandlung von Geschlechterrollen zeigt: So wurden die als aufbrausend und charakterstark gezeichneten weiblichen Sagafiguren von der Forschung häufig in ihrer Rolle als Hetzerinnen wahrgenommen, die den Untergang der Ehemänner beschleunigten; ihr hoher Rede- und Handlungsanteil sowie ein Blick in die weiblichen Genealogien lassen allerdings erkennen, dass die Geschlechterrollen nur noch in Bezug auf äußerliche Merkmale und traditionelle Tätigkeiten als konventionell bezeichnet werden können. Es sind die Protagonistinnen, die zunehmend das Geschehen bestimmen und im Vergleich mit ihren Ehemännern obendrein die bedeutendere Abstammung aufweisen. Die Njáls saga hält mehrere solcher invertierten Erzählmuster bereit, die in der Arbeit untersucht werden. In der abschließenden Zusammenführung beider Teilanalysen wird gezeigt, wie sich invertierte Figurendarstellung und Erzählmuster wechselseitig beeinflussen. Das auf Grundlage der Brennu-Njáls saga erarbeitete Konzept „Trickster“ lässt sich allgemein zur Analyse der Sagaliteratur verwenden: Es bleibt künftigen Projekten vorbehalten, zu überprüfen, inwiefern weitere Sagatexte tricksterhafte Figuren und Erzählelemente enthalten und die Struktur einer Trickstererzählung aufweisen.